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Jeder Mensch träumt, darüber gibt es in der Wissenschaft keine Diskussionen. Natürlich träumen auch Blinde. Die Frage, die sich zwangsläufig stellt lautet: Was und wie träumen sie?
Körperlich nicht beeinträchtigte Menschen können sich meist schon schwer vorstellen, wie es ist, die Welt ohne seine Augen wahrzunehmen. Die Welt der Träume stellt hier ein noch größeres Mysterium dar, denn wie kann man sich Träume vorstellen, wenn man nichts sieht? Träume sind schließlich in der Regel besonders durch ihre optischen Darstellungen und Eindrücke geprägt.
Blind ist nicht gleich Blind
Zunächst muss man feststellen, dass Blind nicht gleich Blind ist. Personen, die ihr Augenlicht verloren haben, verfügen über optische Eindrücke und wissen, „wie man sieht“. Farben, Formen und Objekte, die sie schon einmal gesehen haben, sind ihnen vertraut. Menschen, die blind geworden sind, haben also durchaus die Fähigkeit, visuell zu träumen, und es ist nachgewiesen, dass sie dies auch tun. Lediglich die Intensität der geträumten Seheindrücke kann im Laufe der Zeit nachlassen.
Völlig anders gestaltet sich die Situation bei Menschen, die blind geboren wurden. Diese Menschen haben nie etwas gesehen und kennen die Welt der Formen, Menschen und verschiedenen Materialien nur durch Hören, Riechen, Tasten und Schmecken. Dinge, die ausschließlich optisch wahrnehmbar sind, wie Farben, sind ihnen unbekannt. Die Frage, die später beantwortet wird, ist, ob Geburtsblinde in der Lage sind, in ihren Träumen tatsächlich zu sehen.
Träume von Blinden ohne szenische Träume
Szenische Träume sind das, was man als „normale“ Träume bezeichnet, also solche, die alle Sinneseindrücke, einschließlich des Sehens, umfassen. Blinde Menschen haben zwar nicht alle Sinne, doch die vorhandenen Sinne sind oft stärker ausgeprägt. Man könnte sagen, die Sinne teilen sich eine bestimmte Menge Energie. Fehlt ein Sinn, wird seine Energie auf die übrigen Sinne verteilt. Diese zusätzliche Energie sorgt dafür, dass die anderen Sinne leistungsfähiger werden, sodass Gehör und Tastsinn zum Beispiel im Laufe der Zeit viel empfindlicher und sensibler werden.
Die veränderte Sinneswahrnehmung spiegelt sich auch im Traum wider. Blinde Personen können ihre Träume beschreiben. Sie hören, riechen und fühlen im Traum genauso wie im Wachzustand. Auch Blinde erleben im Traum eine Vielzahl von Szenen mit verschiedenen Eindrücken, die genauso realistisch erscheinen wie die Träume von Menschen ohne Sinneseinschränkungen.
Die Erinnerungen an die Träume unterscheiden sich bei Blinden und Nichtblinden lediglich in dem Maße, wie sich die Sinneswahrnehmungen der beiden Gruppen unterscheiden. Während sehende Menschen oft von intensiven Bildern berichten, konzentrieren sich Erzählungen von Blinden meist auf bestimmte Gerüche, akustische oder haptische Eindrücke.
Inhaltlich gibt es ebenfalls keine großen Unterschiede. Höchstens gibt es Abweichungen in der Häufigkeit bestimmter Traumsymbole, was sich aus der jeweiligen Lebenssituation ergibt. Beispielsweise berichten deutlich mehr Blinde als Sehende davon, in Albträumen zu stolpern, sich zu verirren oder irgendwo hineinzufallen. Solche Situationen stellen für Blinde von Natur aus eine größere Gefahr dar als für Sehende.
Blinde können szenische Träume haben
Wenn man die Thematik nur oberflächlich betrachtet, könnte man annehmen, dass Blinde nicht visuell träumen, da ihnen die Fähigkeit fehlt, entsprechende Sinneseindrücke zu erfahren. In der Tat hielten viele Wissenschaftler bis vor einigen Jahren an der Ansicht fest, dass blinde Menschen im Traum keine visuellen Eindrücke erleben können. Natürlich ist es wahr, dass Blinde keine funktionierenden Augen besitzen.
Obwohl das Auge möglicherweise nicht funktioniert, ist das Gehirnareal, das für die Verarbeitung visueller Reize verantwortlich ist, sowohl vorhanden als auch meist voll funktionsfähig. Diese Perspektive inspirierte viele Wissenschaftler dazu, die Gehirnaktivitäten blinder Menschen während des Träumens genauer zu untersuchen. Die Ergebnisse verschiedener Forschungsgruppen sind in der Tat erstaunlich, denn Blinde sind tatsächlich in der Lage, szenisch zu träumen.
Nicht alle Blinde haben visuelle Träume
Portugiesische Forscher führten im Jahr 2003 ein Experiment mit Kindern durch, welche von Geburt an blind waren. Die Forscher weckten die Kinder, während sie sich in einer REM-Schlafphase befanden. In dieser Phase ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass man sich an seine Träume erinnert. Tatsächlich waren einige Kinder in der Lage, etwas, was sie im Traum „gesehen“ haben, zu zeichnen, was einer Sensation gleich kam.
Die Kinder zeichneten Dinge, die wie Häuser oder andere Gegenstände aussahen. Das, was sie im Traum wahrgenommen hatten, hatte also eine Form, die sie – im Rahmen ihrer körperlichen Fähigkeiten – auf dem Papier reproduzieren konnten. Damit war bewiesen, dass etwas im Gehirn vorgegangen ist, wodurch etwas wie ein Bild entstanden sein muss.
Die Ergebnisse führten dazu, dass sich weitere Forschungsgruppen der Thematik annahmen und die Forschung intensivierten. In der Tat konnte man die vorherigen Ergebnisse mittels EEG-Untersuchungen noch einmal bestätigen. Die Aufnahmen zeigten, dass Blinde, die in der Lage waren, Objekte aus ihren Träumen zu zeichnen, eine erhöhte Aktivität der visuellen Gehirnrinde hatten.
Diese Aktivität war jedoch nur bei Blinden zu beobachten, welche tatsächlich Bilder zeichnen konnten. Probanden, die dies nicht konnten, hatten auch keine erhöhte Aktivität in der visuellen Rinde. Im Klartext bedeutet das, dass nicht alle, aber offenbar einige blinde Menschen in der Lage sind, aus den verschiedenen Sinneseindrücken eine Art visuelle Empfindung zu erschaffen.
Professor Michael Wiegand, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums München erklärt dies mit einem einfachen Vergleich. Er sagt, dass die visuellen Gehirnzentren bei Blinden meist noch intakt seien. Was vielen Blinden fehlt, sei einfach die Leitung dorthin. Blinde, die die Fähigkeit des visuellen Träumens haben, verfügen über diese Leitung. Die verschiedenen Sinneseindrücke werden durch diese Leitung zu den visuellen Gehirnzentren geleitet, wo sie dann in entsprechende visuelle Empfindungen umgewandelt werden.
Blinde träumen in Farbe
Szenisch träumende Blinde berichten nicht nur von Formen, sondern auch von Farben. Es liegt in der Natur der Sache, dass geburtsblinde Menschen keine Farben benennen oder vergleichen können. Es ist nicht einmal sicher, ob die Farbeindrücke auf einer „normalen“ Farbskala abgebildet werden könnten oder ob es sich um ein ganz anderes Farbspektrum handelt. Sicher ist nur, dass es viele solcher Berichte von Blinden gibt.
Wie die Bilder und Farben für Blinde tatsächlich aussehen, wird die Wissenschaft so schnell nicht beantworten können. Dass blinde Personen genauso träumen wie sehende, steht also außer Frage. Ungeklärt ist nur, ob die visuellen Eindrücke der Träume sehender Menschen mit denen blinder Personen wirklich vergleichbar sind.