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Die Traumarbeit stellt einen oft unterschätzten, jedoch wichtigen Bereich der Psychotherapie dar. Die Arbeit mit Träumen bietet vielseitige Ansätze. Eine Möglichkeit besteht darin, die Methoden der klassischen Traumdeutung zu nutzen, um über Symboliken und Trauminhalte Verbindungen zu den Problemen des Patienten herzustellen.
Ein weiterer Ansatz ist die phänomenologische Traumarbeit, die sich intensiv mit den Gefühlen während der Träume auseinandersetzt und in diesem Kontext näher erläutert wird. Der Begriff Gefühle wird hier in einem weiten Sinne verwendet. Er umfasst nicht nur direkte Emotionen wie Angst oder Wut, sondern schließt auch verschiedene Eigenschaften ein. Aggression beispielsweise ist ein Begriff, der nicht nur mit Aggressivität, sondern auch mit Leidenschaft, Kraft, Energie und Tatendrang in Verbindung steht. Emotionen werden somit ganzheitlich betrachtet und nicht auf ihr auffälligstes Merkmal reduziert.
Phänomenologische Traumarbeit
Die phänomenologische Traumarbeit basiert auf der Überzeugung, dass Emotionen in Träumen von großer Bedeutung sind. Sie offenbaren, was der Wiener Neurologe und Psychiater Viktor Frankl als „präreflexive Tiefenperson“ bezeichnete. Dies bedeutet im Wesentlichen, dass alle Emotionen, die in Träumen auftreten, tief im Inneren des Träumenden verwurzelt und somit ein integraler Bestandteil der Persönlichkeit sind.
Der wesentliche Unterschied zwischen der klassischen Psychotherapie und der phänomenologischen Traumarbeit liegt darin, dass die klassische Psychotherapie vor allem das Warum hinterfragt. Es wird versucht, die Ursachen von Träumen zu verstehen, um durch therapeutische Ansätze das Denken und Verhalten des Patienten zu beeinflussen. Man könnte sagen, dass es sich hierbei um eine eher mechanistische Vorgehensweise handelt. Das Problem wird identifiziert, und anschließend werden standardisierte Methoden angewandt, um eine Veränderung herbeizuführen.
In der phänomenologischen Traumarbeit hingegen wird mit dem gearbeitet, was sich zeigt, also mit dem Traum in seiner Erscheinung. Es geht weniger darum, Ursachen analytisch zu erfassen und methodisch zu behandeln, sondern vielmehr um ein Begleiten und Arbeiten mit dem Vorhandenen. Dieser Ansatz legt mehr Wert auf Akzeptanz und Selbstverständnis. Die Erkrankung wird nicht operativ entfernt, sondern nach und nach gelindert.
Salopp gesagt, wird nicht die Frage „Warum ist das so?“ in den Mittelpunkt gestellt, sondern eher die Frage „Wie gehen wir nun damit um?“.
Psychotherapie und Träume: Keine Moral, nur Gefühle
Im Traum gelten die Regeln des Verstandes und der Moral nicht. Die Persönlichkeit offenbart sich vollständig ungefiltert, ohne dass Handlungen, Emotionen und Motivationen bewertet werden. Während des Träumens agiert die Persönlichkeit in einem Zustand natürlicher Unbefangenheit. Handlungen geschehen, bevor darüber nachgedacht werden kann, was die wahre Natur des menschlichen Geistes widerspiegelt.
Es überrascht also nicht, wenn wir im Traum Dinge tun, die wir im wachen Leben niemals tun würden. Oft erwachen wir und sind bestürzt über die Handlungen, die unser Unterbewusstsein uns im Traum hat vollbringen lassen. Zum Beispiel könnte ein sehr friedfertiger Mensch im Traum zum Mörder werden, der sein Opfer nicht nur tötet, sondern es auf grausame Weise quält, bis es an Blutverlust und Schmerzen stirbt. Dabei verspürt er keinerlei besondere emotionale Regungen, was den friedfertigen Menschen nach dem Erwachen erschreckt.
Will ein Psychotherapeut die Träume seines Patienten analysieren, muss er jegliche moralische Bewertung vermeiden. Es geht allein um die Betrachtung des Phänomens, also des Traums, in seiner ursprünglichen Form. Auch Belehrungen sind in der Methodik der phänomenologischen Traumarbeit fehl am Platz. Das wäre sogar hinderlich, da es die Botschaft übermitteln würde, dieser Persönlichkeitsanteil sei wirklich schlecht oder falsch. Das widerspricht der gesamten Methode.
Zentral bei dieser Methode ist die Arbeit mit den Gefühlen des Träumenden in Bezug auf und während des Traums. Wenn der Patient von seinen Träumen berichtet, öffnet er sich sowohl dem Therapeuten als auch sich selbst. Das größte Problem, wie bereits Sigmund Freud und C. G. Jung erkannten, besteht oft darin, dass Patienten gegenüber negativen Gefühlen abwehrend sind. Sie sind überzeugt, dass das Geträumte nicht zu ihnen gehört und fürchten, es könnte ein Teil ihrer selbst sein. Besonders häufig tritt dies bei Träumen mit Gewalt auf. Im Folgenden soll näher auf das Thema Gewalt im Traum und die Therapie durch phänomenologische Traumarbeit eingegangen werden.
Erklärung & Beispiel: Psychotherapie und Gewalt in Träumen
In Träumen offenbaren sich sämtliche Aspekte der menschlichen Natur. Gewalt und gewalttätiges Verhalten gehören dazu. Tatsächlich zählt Gewalt zu den häufigsten Themen in Träumen, denn die häufigsten Träume sind Albträume (Statistik), die typischerweise irgendeine Art von Gewalt enthalten.
Die Analyse von Träumen, in denen man Gewalt ausübt oder erfährt, ist nicht nur für Traumanalytiker von Interesse, sondern auch für die praktische Psychologie von Bedeutung. Gewalttätige Träume können viel über die innere Welt des Träumenden aussagen. Doch stellt sich die Frage: Bedeutet das Ausüben von Gewalt in Träumen, dass die Person auch im wachen Leben zu Gewalt neigt? Oder handelt es sich um kompensatorische Träume von Personen, die ihre Aggressionen unterdrücken? Besonders entscheidend ist, welche Art von Gewalt gezeigt wird und wer daran beteiligt ist.
Unterschiedliche Formen der Gewalt im Traum
Grundlegend unterscheidet man zwei Formen der Gewalt. Eine ist die gutartige Aggression. Ihr gegenüber steht die Destruktivität. Ob Gewalt im Traum aktiv oder passiv angewendet wird, spielt zunächst keine Rolle. Erst muss erkannt werden, um welche Art der Gewalt es sich handelt.
Gutartige Aggression
Die sogenannte gutartige Aggression unterscheidet sich äußerlich nicht von der Destruktivität. Der große Unterschied ist die Motivation der Gewaltausübung. Gutartige Aggression kann auch defensive Aggression genannt werden. Sie kommt zum Vorschein, wenn man etwas verteidigen möchte. Es ist die Form der Aggression, die auch in der Selbstverteidigung eingesetzt wird.
Im Traum äußert sich das beispielsweise, indem man sich in einer bedrohlichen Situation befindet und fürchtet, entweder persönlichen Schaden zu erlangen oder etwas Wichtiges zu verlieren. In beiden Fällen wird zur Verteidigung meist Gewalt eingesetzt. Die Gewalt ist nicht auf die direkte Gefahrenabwehr begrenzt, im Sinne der Abwehr eines Angreifers.
Sie kann auch als „präventive Gewalt“ vorkommen. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn jemand im Traum eine andere Person angreift oder sogar tötet, noch bevor tatsächlich Gefahr im Verzug ist. Wenn man im Traum einen Einbrecher tötet, bevor dieser tatsächlich in die geträumte Wohnung einbricht, handelt es sich nicht um Mord. Es ist die Abwehr einer Gefahr bzw. Bedrohungslage, ein Sich-zur-Wehr-Setzen.
Nicht selten geht diese Tötung mit einem Gefühl der Gleichgültigkeit einher, denn von der triebhaften Seite des Menschen aus betrachtet ist Gewalt zur Selbstverteidigung vollkommen normal, das Konstrukt der Moral ist erlernt und nicht angeboren. Häufig treten solche Träume bei Menschen auf, die sich in der Realität nur selten zur Wehr setzen. Einen direkten Bezug zur Gewalttätigkeit oder Gewaltfähigkeit in der Realität lässt sich aus gewalttätigen Träumen nicht ableiten.
Der Traum zeigt aber, dass Gewaltpotenzial vorhanden ist. Dieses Gewaltpotenzial bezieht sich aber nicht auf die Ausübung direkter Gewalt mit dem Ziel, jemandem zu schaden, sondern auf die positive, gutartige Aggression im Sinne der Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen und sich zu verteidigen.
Destruktivität
Der Begriff Destruktivität beschreibt das, was gemeinhin als lebensfeindliche Aggression bezeichnet wird. Diese Form der Aggression geht einher mit einer gleichgültigen Art von Leidenschaft für Gewalt, die bis zum Gewaltexzess getrieben werden kann. Träume der Destruktivität gehen mit anderen Gefühlen einher als Träume von gutartiger Aggression. Sie sind überwiegend geprägt durch eine gewisse Gelassenheit. Angstgefühle oder die Empfindung einer Bedrohung sind eher ungewöhnlich.
Das Ziel von Destruktivität ist die Zerstörung. Anders als bei der gutartigen Aggression geht es hier nicht darum, sich oder einen Wert zu schützen. Der Träumende übt lebensdestruktive Gewalt aus und kann sich dabei entspannt fühlen. Er empfindet auch keine Reue oder das Gefühl, etwas Falsches zu tun. Die Gewaltausübung ist ihm mehr oder minder gleichgültig, sie geht nicht einher mit einer innerlichen Teilhabe am Geschehen.
Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich wirken, denn die Zerstörung findet ohne spürbare Aggression statt. Sie ist nicht die Triebkraft, die den Träumenden und seine Taten leitet. Die österreichische Psychotherapeutin Cornelia Kunert erklärt dieses Paradoxon in dem Artikel „Gewalt im Traum“ (erschienen in: Existenzanalyse, Zeitschr.d.Ges f. Logotherapie und Existenzanalyse, Wien, Nr.1, März 1998, 15.Jg., S. 4-10) folgendermaßen:
„Dieses Paradoxon, dass gerade den lebensdestruktiven Träumen die Aggression fehlt, wird aber verständlich, wenn wir bedenken, dass dieser Traum-Akt nicht im Dienste von etwas steht, das es zu erhalten und zu verteidigen gilt und von dessen Werthaftigkeit der Träumer innerlich ergriffen ist. Wir müssen vielmehr annehmen, dass der Verlust des Lebenswerten biographisch bereits eingetreten ist und eine Leere und Belanglosigkeit zurückgelassen hat. Also spiegelt sich dann auch in solchen Träumen die Belanglosigkeit des Lebendigen als ein leichtgängiges Vernichten-Können von Leben, zu dem keine Anstrengung im Sinne aggressiver Kraftaufwendung mehr notwendig ist.“
Im Grunde bedeutet Destruktivität im Traum also, dass es nichts mehr zu verteidigen gibt. Man kann also sagen, dass die Destruktivität auf die gutartige Aggression folgt. Bei ihr ist bereits verloren, was zuvor noch geschützt werden konnte.
Negative Emotionen & positive Lebendigkeit
In der phänomenologischen Psychotherapie wird nicht nur versucht, die Ursachen von Problemen zu identifizieren und dem Patienten Werkzeuge anzubieten, um damit besser umzugehen. Kunert fasst die Fragestellung in ihrem Artikel „Gewalt im Traum“ mit folgenden Kernfragen zusammen:
- „WAS geht den Träumer (im Traum) an und WIE geht es ihn (im Traum) an?“
- „Wie geht der Träumer (im Wachen) damit um, das geträumt zu haben? Was bedeutet es ihm?“
Wie bereits erwähnt, ist das übergeordnete Ziel dieser Therapiemethode die ganzheitliche Selbst-Akzeptanz. Ein Patient gilt erst dann als wirklich geheilt, wenn er sich und seine Persönlichkeit vollständig akzeptiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass im Traum erlebte Gewalt in der Realität ausgelebt werden soll. Vielmehr soll das eigene Potenzial erkannt werden. Gewalt kann als Form von Energie betrachtet werden. Auch wenn sie stets mit negativen Gefühlen verbunden ist, zeigt sie doch ein inneres Feuer, das keineswegs erloschen ist. Leidenschaft und Energie für Veränderungen sind vorhanden und müssen nur freigesetzt werden.
Diese Form der positiven Lebendigkeit soll in das tägliche Leben des Patienten integriert werden. Im Traum offenbaren sich Fähigkeiten wie Wehrhaftigkeit und Mut als Bestandteile der eigenen Persönlichkeit. Es geht darum, diese aus dem Unterbewusstsein zu holen und sich einzugestehen, dass das eigene Potenzial oft unterschätzt wurde. Kunert drückt dies im bereits erwähnten Artikel folgendermaßen aus:
„Therapie soll den Menschen nicht beruhigen, sondern ihn vielmehr aufwecken zu sich selbst. Sie soll ihm Mut machen, die notwendige Aggression aufzuspüren und aufzubringen, um an den Grenzen der Anpassung den Kampf aufzunehmen gegen die Kräfte der Unterdrückung und Selbstentfremdung, die sich oft lautlos in das Leben eingeschlichen haben.“
Der Therapeut spielt hierbei eine begleitende Rolle und bietet Unterstützung. Die Arbeitsweise des Therapeuten wird von Kunert direkt im Anschluss folgendermaßen beschrieben:
„Der Weg, den der Patient dabei geht, ist schwer, unter anderem, weil er gepflastert ist mit Vorwürfen von anderen, die es gewohnt waren, dass er brav und reibungslos funktioniert. Oft genug muss sich ein ehemals depressiver Mensch auf seinem Weg zur Gesundung gefallen lassen, von anderen – gerade Nahestehenden – als Egoist bezichtigt zu werden. […] Die einzige Entschädigung dafür mag die wachsende Lebensfreude sein, die diesen Prozess begleitet.“
Fazit Phänomenologische Traumarbeit
Die Phänomenologische Traumarbeit ist eine psychotherapeutische Methode, die sich auf Aspekte der Traumdeutung konzentriert, welche oft nicht ausreichend beachtet werden. Während der Träume werden die Emotionen auf einer Ebene betrachtet, die über die klassische Traumarbeit hinausgeht. Natürlich werden Emotionen im Traum auch in anderen methodischen Ansätzen einbezogen, jedoch aus einer unterschiedlichen Perspektive.
Dieser Ansatz fokussiert sich mehr auf das „ist“ als auf das „war“. In beiden Fällen werden Träume wie ein Symptom einer Krankheit behandelt. Das ist durchaus korrekt, da ihnen eine psychische Erkrankung oder mentale Verletzung zugrunde liegt.
Während die klassische Traumarbeit darauf abzielt, die Ursachen der Erkrankung zu identifizieren und die Krankheit gezielt zu beseitigen, legt die phänomenologische Traumarbeit mehr Wert auf Nachhaltigkeit (Anm.: Persönliche Meinung des Autors).
Metaphorisch betrachtet wird das Symptom zur Medizin gemacht. Die Erkenntnisse über die Traumursachen dienen lediglich der Erklärung, da Menschen stets nach Gründen suchen. Wesentlich ist die Selbsterkenntnis und das Verstehen, dass die Heilkraft aus einem selbst kommen kann. Im Traum offenbart sich nicht nur die Ursache, sondern auch alles, was zur Heilung notwendig und vorhanden ist. Der Therapeut ist hier kein Chirurg, sondern ein Begleiter, möglicherweise auch ein Lehrmeister auf dem Weg zur Selbstheilung.
Das bedeutet nicht, dass man auf professionelle Hilfe verzichten kann oder dass Therapeuten keine Daseinsberechtigung haben. In vielen Fällen ist es so, dass man alleine nicht weiterkommt und die ursprünglichen Probleme ohne externe Hilfe nicht vollständig identifizieren kann. Daraus folgt logisch, dass man das Problem auch nicht alleine lösen kann.
Abschließend sei erwähnt, dass die Phänomenologische Traumarbeit nur einer von vielen Therapieansätzen ist. Welche Methode im Einzelfall die größten Erfolgschancen hat, lässt sich vor einer Anamnese durch einen Psychotherapeuten nicht bestimmen. Es kann jedenfalls hilfreich sein, sich mit verschiedenen Therapiemethoden auseinanderzusetzen, um mit dem Therapeuten unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten besprechen zu können.
Ergänzende Artikel
- Hilfe bei psychischen Problemen: Beratung, Information, Selbsthilfe
- Träume und psychische Störungen
- Schlafstörungen und Träume
- Informationen über Albträume
- Medien und Literaturempfehlungen